Bist du bewusster als ich?
Und kann diese Frage überhaupt beantwortet werden?
Widerstand und Wahrheit
Wenn jemand behauptet, er sei bewusster, löst das in mir erstmal einiges aus. Zum einen spüre ich Widerstand, welcher zum Teil aus einem Thema von mir kommt doch auch einen wahren Kern hat, glaube ich. Diese Intuition wird vom Modell der Entwicklungslinien gestützt.
Dazu kommt noch die schmerzliche Frage auf, ob ich nun wirklich weniger bewusst bin und ob das etwas mit meinem Wert zu tun hat. Ist meine Angst „niederer“ zu sein berechtigt oder was sagt mir diese Bewertung?
Mit dieser Paradoxie, dass wir auf der einen Seite in der Liebe alle gleich sind und auf der anderen Seite alle unterschiedlich entwickelt, habe ich früher einige philosophische Denksessions vollführt.
Meine Erkenntnisse konnte ich in der integralen Theorie durch das Konzept der Entwicklungslinien wiederfinden und klarer verstehen.
Entwicklungslinien
Stell dir ein Gebäude von der Seite vor. Dort sind ganz viele Aufzüge nebeneinander. Jeder Aufzugschacht ist eine Linie und fängt am Anfang unseres Lebens im untersten Geschoss an. Auf jeder Etage wartet ein neuer Mitfahrer, somit muss auf dem Weg nach oben auf jeder Etage ein Halt erfolgen. Im Laufe unseres Lebens stehen die Aufzüge überall in unterschiedlichen Etagen.
Jede Linie beschreibt die Entwicklung in einem Bereich wie z.B. rational-logisch (früher kognitiv), emotional, moralisch, spirituell, usw. Bei jedem Menschen gibt es dieselben Linien. Die Linien werden in Stufen durchlaufen, die Menschen laut empirischer Forschung alle in derselben Art und Reihenfolge erfahren. Diese sind relativ unabhängig voneinander, was heißt, dass ich in einer Linie weit entwickelt sein kann und in einer anderen noch auf der untersten Stufe bin. Doch es gibt auch Linien, die erst weiter entwickelt werden können, wenn eine bedingte Entwicklung auf einer anderen Linie vorher erfolgt ist.
Kognitive und moralische Entwicklungslinie
Die kognitive Entwicklungslinie ist sehr bekannt und geht auf den schweizer Biologen Jean Piaget zurück (es wurde später herausgefunden, dass es mehrere kognitive Linien gibt, weswegen diese heutzutage logisch-rational genannt wird). Sie beschreibt vor allem die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten von Kindern und Teenagern.
In der ersten Stufe (sensomotorisch) lernen Kinder durch beobachten, nachmachen und Erfahrung. In der präoperationalen 2. Stufe wird die Welt symbolisch gedeutet und der Mensch erfährt sich als dessen Mittelpunkt.
Danach bildet sich das logische Denken heraus (3. Stufe: konkret operational). Wo vorher ein hohes schmales Glas mehr Wasser als ein kleines breites Glas fassen soll, erkennt das Kind, dass in beide gleich viel passt. Die Logik ist dort aber noch auf konkrete und erfahrene Situationen beschränkt.
In der letzten Piaget Stufe 4 (formal operational) entsteht die Fähigkeit des abstrakten Denkens. Nun kann der Mensch Dinge und Situationen erfassen, die er selbst nicht erlebt hat, kann andere Verhaltensweisen analysieren und systematischer leben.
Ken Wilber, der heute bekannteste Autor zur integralen Perspektive, nennt die höchste, bekannte kognitive Stufe Schau-Logik. Diese umfasst die Fähigkeit unterschiedliche Wahrheiten gleichzeitig anzuerkennen und die Vielfalt an Teilwahrheiten in eine übergeordnete Struktur einzubetten.
Eine andere beliebte Entwicklungslinie ist die der Moral von Lawrence Kohlberg, welche auf der von Piaget aufbaut.
Dort entwickeln wir uns von einer egozentrischen (Stufe 1&2) Moral, wo wir zuerst nur an uns selbst denken können, zu einer ethnozentrischen (Stufe 3&4) Moral. Dorthin kommen wir, indem wir uns zuerst in ein Gegenüber versetzen können und nun für die Beziehung entscheiden. Das gute Beziehungen genauso wichtig sind wie an mich zu denken führt weiter zu dem Schluss sich an Regeln und Gesetze zu halten, damit eine Gesellschaft funktionieren kann, was wiederum auch mir und meinen Beziehungen gut tut. In der höchsten Stufe von Kohlberg lösen wir uns wieder von einigen Regeln und Gesetzen um selber zu höherer, allgemeinerer Ethik zu finden woraus sich dann eine weltzentrische (Stufe 5&6) Moral entwickelt.
Auf Augenhöhe im Unterschied
Bei den einzelnen Linien kann ich den Eindruck gewinnen, ein Mensch ist allgemein entwickelter als der andere. Doch kein Mensch ist als Gesamtes einfach auf irgendeiner Stufe:
Jeder steht in allen Linien die es gibt auf einer der Stufen. Somit kann höchstens eine Tendenz gegeben werden, in welcher Stufe ich insgesamt bin oder jemand entscheidet, welche Linien die wichtigeren sind (was kontextabhängig oder arrogant ist) doch korrekterweise müsste immer ein Bezug zu einer Linie erfolgen.
Diese Einsicht hilft mir auf Augenhöhe mit anderen Menschen zu sein, obwohl der erste Eindruck eines Stufenmodells nach dem Gegenteil aussieht. Das ist für mich die Magie des integralen Ansatzes. Wir bewerten und teilen ein, doch durch die ganzheitliche Perspektive, der Wertschätzung aller tieferen Wahrheiten, finde ich zu liebevoller Annahme von Allem.
Ich betrachte keinen Menschen mehr als besser oder schlechter. Ich sehe in welchen Bereichen ich entwickelter bin und weiß doch, dass ich von jedem in anderen Linien etwas lernen kann. Auf der Entwicklungslinie der Liebe stehen wir aus meiner Sicht sowieso alle auf der einzigen Stufe: Nämlich das jeder von uns liebenswert ist.
Auf der höheren, spirituellen Ebene finden wir uns alle wieder, verbunden im Eins Sein. Solang wir unser gleiches, unendliches Potential nicht komplett entfaltet haben, werden wir unterschiedlich in diese Welt strahlen (und bis das passiert dauert es noch laaange…).
Lasst uns die Herzen für die Unterschiede und Entwicklungsstufen öffnen, um voneinander zu lernen, mein Potential durch den Anderen zu erkennen, um irgendwann in diesem vollen Potential das beste Eins-Sein zu sein.