Ich stehe auf einem kargen Feld in Brandenburg, es ist November und echt kalt. Die Aufgabe meiner Therapeutin? Meine Wut aktivieren. Ich mache eine pferdegestützte Therapie und die Grundregel ist: Pferden kannst du nichts vormachen. Egal ob ich wild mit den Armen wedel, rumbrülle oder mit dem Fuß aufstampfe. Die Pferde scheinen sehr unbeeindruckt. Ratlos blicke ich in die graue Landschaft und frage mich: Wie geht echte Wut eigentlich?
Ein Jahr ist es her, dass ich mir sehr deutlich vor Augen geführt habe, dass ich keinen guten Zugang zu meiner Wut hatte. Und dass ich daraus resultierend nicht gut Grenzen setzen konnte.
Als Frau, die darauf konditioniert wurde, immer brav und ruhig zu sein, hatte ich nie gelernt, meiner Wut Raum zu geben. Klar war sie da, tief in mir – manchmal kam sie sehr explosiv hervorgesprudelt – aber in der Regel ich konnte sie nicht spüren, geschweige denn ausdrücken.
Das wollte ich ändern.
Die Wut kennenlernen.
Zwei Wut-Workshops, unzählige Stunden im “Wutraum” und viele Momente in meinem Leben in denen ich die Wut mal bewusst wahrnehmen konnte, hat es gebraucht, um heute an einem ganz anderen Punkt zu stehen.
Die ersten Male im Wutraum war ich völlig gehemmt. Mit einer Freundin stehe ich da und bringe es kaum über mich meine Stimme zu erheben. Es brauchte ein wenig Übung meine Scham zu überwinden (Und ein paar saftige Triggermomente :D).
Inzwischen kann ich im Wutraum völlig ausrasten, schreiend gegen Matratzen treten und mit Boxhandschuhen gegen die Wand schlagen. Das ist jedoch nur ein Teil der Arbeit. Die Wut auszudrücken ist der erste Schritt. Kann ich sie fühlen und loslassen, zeigten sich darunter andere Gefühle – Trauer und Schmerz aus aktuellen und alten Verletzungen. Situationen, wo ich meine Grenzen nicht kannte und kommuniziert habe. Erkenntnisse darüber, was ich brauche und mir wünsche.
Unter der Wut kann viel Weisheit liegen.
Ich begann mehr anzunehmen, dass Wut eine völlig natürliche Emotion ist – sie zeigt mir, dass etwas nicht stimmt. Wie Brené Brown es in ihrem Atlas of the Heart so treffend formuliert: Wut entsteht, wenn wir uns ungerecht behandelt fühlen. Wut ist eine Reaktion auf Verletzung und Missachtung.
Wut in die richtige Zeit einordnen.
Häufig ist meine Wut allerdings keine Reaktion auf die tatsächliche Situation im Jetzt. Natürlich kann ich wütend sein, weil jemand sein dreckiges Geschirr in der Küche stehen lässt, statt es abzuspülen. Allerdings rechtfertigt das keine so große Wut, wie sie in solchen Momenten hochkommen kann.
Das liegt daran, dass ein Teil in mir der Situation eine andere Bedeutung gibt: „Die andere Person findet mich nicht wichtig genug, um den gemeinsamen Raum zu achten.“ zum Beispiel. Da meldet sich mein Beschützer mit ganz anderer Wucht als bei der Information: „Hier steht dreckiges Geschirr.“ Wenn mein System also interpretiert, dass ich nicht wichtig wäre, sieht es mich in Gefahr. Meine inneren Kinder wollen wichtig sein – für sie war es mal überlebenswichtig von anderen Menschen geachtet zu werden. Für sie erscheint die eigentlich harmlose Situation gefährlich und ihre Beschützeranteile können dementsprechend heftig reagieren.
Wenn du mehr über den inneren Beschützer erfahren willst schau dir dieses Video an.
Erst durch meine direkte Auseinandersetzung mit meiner Wut konnte ich erkennen, wie oft ich eigentlich auf alte Verletzungen reagiere, die in meinem System angepiekst werden. Und bin meiner Wut inzwischen richtig dankbar – Sie zeigt mir wo ich hinschauen darf. Sie zeigt mit, wo etwas in mir meine Liebe, Aufmerksamkeit und Anerkennung braucht.
Wege, um Wut zu befreien
Nicht jeder hat den Luxus eines Wutraums, um diese intensive Energie herauszulassen. Als ich noch in einer Mietwohnung mit Nachbarn wohnte, musste ich kreative Wege finden, um meiner Wut Ausdruck zu verleihen. Der Wald wurde zu meinem Verbündeten – ich warf Stöcke, stampfte auf den Boden und schrie aus vollem Hals. Manchmal zog ich mich in mein Auto zurück, drehte die Musik auf und brüllte in den Schutz der Lautstärke hinein. Andere Male griff ich auf gelernte Techniken zurück, wie das Fauchen und Zunge herausstrecken, ganz im Stil der indischen Göttin Kali. Diese Methode half mir, durch Töne Wutenergie abzubauen, ohne meine Umgebung zu erschrecken.
Die Botschaft hinter der Wut.
Im Moment lerne ich die nächste Herausforderung der Wut: Sie in klärenden Gesprächen auf gesunde Weise zu nutzen. Es geht nicht darum, Vorwürfe zu machen oder Aggressionen abzubauen, sondern darum, im Kontakt mit der anderen Person zu bleiben, während ich meine Wut spüre. Ich lerne: Der Schlüssel ist, die Wut in Synthese mit meiner Weichheit und Verletzlichkeit zu bringen – das schafft den Raum für echte Begegnung.
Wut empfangen: Wenn jemand anderes wütend ist.
Nicht nur das Ausdrücken meiner eigenen Wut war ein Lernprozess, sondern auch der Umgang mit der Wut anderer. Gesunde Wut greift mich nicht an. Wenn jemand wütend ist, versuche ich inzwischen, die Wut durch mich hindurchfließen zu lassen, anstatt in einen Abwehrmodus zu schalten. Dadurch kann ich besser erkennen, dass hinter der Wut oft etwas Wichtiges steckt, ein Anliegen, das gehört werden möchte. Es bedeutet nicht, dass ich sofort etwas an mir ändern muss, aber es schafft mehr Verständnis und Empathie.
Destruktive Wut abgrenzen.
Ebenso wichtig ist es, sich vor destruktiver Wut zu schützen. Wut, die verletzend oder entwertend ist, darf nicht ungebremst in unser Leben eindringen. Es ist entscheidend, zwischen gesunder, klärender Wut und destruktiver, übergriffiger Wut zu unterscheiden.
Fazit: Wut als Kraftquelle.
Wut, wenn sie befreit und gelebt wird, bringt mich in meine Kraft und ins Handeln. Sie ist ein Wegweiser zu tief verborgenen Wunden und zu dem, was ich wirklich brauche. Wenn ich mich traue, meine Wut zu fühlen und sie bewusst zu nutzen, stehe ich für mich selbst ein und schaffe Raum für Veränderung. Wut ist kein Feind – sie ist eine mächtige Verbündete auf dem Weg zu meiner eigenen Stärke.
Hier geht es zum Video über den Inneren Beschützer.