Schatten in Utopie-Bewegungen, eine Reflexion eigener Erfahrungen
Den eigenen Schatten zu jagen, gleicht dem Versuch einer Katze, den eigenen Schwanz zu jagen. Es scheint unmöglich. Ich berichte über die Jagd eines Netzwerks nach dem eigenen Schatten, über Herausforderungen für Idealisten und vergleiche es mit Beispielen aus politischen Parteien.
Welche Gruppen betrifft das?
Vor einigen Jahren hat ein gemeinschaftserfahrener Seminarleiter zu mir gesagt: „Jede Sangha hat ihre eigenen Schatten.“ In vielen Gemeinschaften, Organisationen und Unternehmen treten große Probleme im Zwischenmenschlichen auf. Das mag nicht auf viele etablierte Unternehmen, die klare Abläufe und eine materielle Sicherheit besitzen, zutreffen, bzw. es wird dort nicht so offen sichtbar. Das mag auch nicht auf viele lose Freundesgruppen zutreffen, in denen es um Freizeitgestaltung geht und in denen meist homogene Ansichten bestehen, da sich nur sehr wenige Menschen heutzutage mit anderen Menschen unterhalten, die nicht die gleichen Ansichten haben, sei es in Politik, Werten, Weltanschauung oder Feindbildern.
Ich spreche hier über Gruppen, Organisationen und Gemeinschaften, die sich neu gründen, etwas Neues machen, sich umstrukturieren und in denen man als ganzer Mensch und nicht nur mit seiner Arbeitspersona da ist. Besonders sehr idealistische Gruppen oder, um es in unserem Sprachgebrauch zu sagen, visionäre Gruppen, stehen doch immer wieder vor großen Problemen.
Von einem dieser Probleme will ich berichten, um dir die Möglichkeit zu geben, aus unseren Erfahrungen zu lernen.
Wer waren die New Earth Tribes
Die New Earth Tribes waren ein Netzwerk aus individuellen Tribes, geeint durch die gemeinsame Vision, „eine neue Erde zu schaffen, die unser Herz schon lange kennt“. 2022 begannen wir erfolgreich mit zwei Gruppen an verschiedenen Standorten; eine dritte kam später hinzu. Über zwei Jahre lernten wir viel und setzten uns mit vollem Einsatz für unsere Vision ein. Dabei erlebten wir viel inneren Wandel und Entwicklung. Ende 2024 haben wir das NET-Netzwerk im Guten aufgelöst.
Ich habe in dem Netzwerk eine tragende Rolle gespielt und spreche für die Phönix-Gemeinschaft, die einer der Tribes war. Nach dem Ende des Netzwerks lasse ich dich in diesem Artikel an meiner kritischen Reflexion einer nicht gelösten Schattenstruktur im Netzwerk teilhaben.
Was sind Schattenstrukturen
Viele Probleme hängen mit Schattenstrukturen zusammen, also Dinge, die uns nicht vollständig bewusst und bekannt sind. Das ist in einer dualen Welt, in der wir als unwissende Wesen geboren werden, nicht überraschend oder ungewöhnlich und in diesem Kontext völlig wertfrei, also nichts Negatives. Ein Schatten existiert ja bereits dann, wenn ich mich mit einem Pol oder einer Seite identifiziere und den Gegenpol oder die Gegenseite negiere, ablehne oder gar nichts von ihr weiß.
Beispiel: Wenn ich mich stark fühle und Schwäche ablehne, dann kann es passieren, dass ich mich überschätze, weil meine eigene Schwäche im Schatten liegt und ich sie nicht sehe. Dadurch schätze ich mich an Stellen als stark ein, wo ich es gar nicht bin, weil ich nichts anderes als Stärke sehen kann und mich dadurch überschätze.
Utopie-Gruppen
Die Schattenstruktur, die ich selber im ehemaligen NET-Netzwerk erlebt habe, ist eine, die viele Utopie-Gruppen haben, die in der Hinsicht radikal sind, dass sie etwas Grundlegendes in der Gesellschaft oder Welt verändern wollen. Eine Utopie ist ein Idealzustand; das Leben ist allerdings in einem stetigen Prozess der Veränderung, und wäre die Utopie erreicht, dann wäre eventuell unser Daseinsgrund weg. Das heißt, man sollte das Streben nach der Utopie zu einer Reise machen, auf der man glücklich ist, da man sich sonst von der Utopie knechten lässt und sich damit wieder von ihr wegbewegt. Ich beleuchte nun eine Schattenstruktur von Utopie-Bewegungen, die ich selbst erfahren habe. Ich nenne den Schatten die „luziferische Abgehobenheit“.
Laut Rudolf Steiner ist Luzifer eine geistige Wesenheit, die als Träger des Lichts und der Erkenntnis fungiert und deren Einfluss auf den Menschen sowohl zur geistigen Freiheit als auch zur Selbstsucht, Verirrung und Illusion führen kann.
Ähnliche Schattenstrukturen in bekannten politischen Parteien
Prominente und dir eventuell bekannte Beispiele für diesen Schatten finden sich zuhauf in der Politik. Die Partei Bündnis 90/Die Grünen hatte über viele Jahre zwei Flügel: die Realos und die Fundis bzw. die Linken². Die Fundis lehnten jede Beteiligung an Regierungen ab; sie forderten so grundsätzliche Veränderungen, dass sie diese wohl nicht einmal mit der absoluten Mehrheit hätten vollständig umsetzen können. Ein ähnliches Phänomen ist bei der AfD von heute zu beobachten, nur auf subtilerer Ebene, mag sie sich doch noch so sehr über ihre Ausgrenzung beschweren. Auf der anderen Seite nutzt sie ihre Situation, um sich als Protestpartei und Anti-Establishment-Partei zu positionieren. Sie muss überhaupt nicht über Inhalte und Umsetzung reden (ihr aktuelles Wahlprogramm stammt im Wesentlichen immer noch aus dem Jahr 2016)³; ihr Image reicht für die Wähler vollkommen aus. Würde sie aber beginnen, Regierungsverantwortung zu übernehmen, wäre der Zauber der Illusion einer „Alternative“ schnell weg.
Beiden Beispielen ist gemein, dass eine grundsätzliche Kritik am Bestehenden geübt und weitreichende Veränderungen gefordert werden. Gleichzeitig findet aber keine Auseinandersetzung mit der realen Umsetzung der Forderungen statt. Diese Position lädt sehr dazu ein, in Illusionen zu verfallen, denn man braucht nicht mehr über Machbarkeit zu sprechen, sondern nur darüber, was ideal wäre. Das kann man mal machen, wenn das aber zu lange geht, dann ist das sehr gefährlich, denn man verliert den Bezug zur Realität. Ich denke, es braucht immer eine gesunde Mischung aus Idealismus und Realismus. Und nur am Rande: Ich hoffe sehr auf eine bessere Politik und kompetentere Politiker, die wir für die Herausforderungen der nächsten Jahre wirklich dringend bräuchten.
Die Umsetzung der Vision im NET
Ein ähnliches Phänomen ist uns als New Earth Tribes auch passiert. Radikal in unserer Vision und Forderung nach einer neuen und utopischen Welt, in der ein spirituelles und gemeinschaftliches Leben möglich ist. Grundsätzlich ist nichts gegen eine hohe Vision einzuwenden; sie gibt eine Ausrichtung und einen Nordstern, an dem man sich orientieren kann. Höhere Werte und Spiritualität geben einem Sinn und Motivation, sein Leben im besten Sinne für sich, seine Mitmenschen und die Natur auszurichten. Problematisch wird es dann, wenn diese hohe Vision nicht in ein angebundenes, sinnvolles und praktisches Tätigsein umgesetzt wird. Wenn die Fähigkeit und Möglichkeit fehlt, das Visionäre und Himmlische in das Konkrete und Profane zu übersetzen.
Was gefehlt hat
Bei uns war es das Fehlen einer Wirtschaftlichkeit, mit klaren Strukturen und Ordnung nachzugehen, die in Verbindung mit der hohen Vision steht. Eine Vision für das Netzwerk gab es: Möglichst viele Gemeinschaften in die Welt zu bringen, in denen die neue Erde – also ein liebevolleres und bewussteres Miteinander – gelebt wird. Die Vision berührt und bewegt mich auch immer noch. Einen Plan, wie wir diese Vision umsetzen, und damit auch ein stringentes und kontinuierliches Dranbleiben, hat gefehlt. Zugegeben, diese Aufgabe ist auch eine sehr große, bei der man erst einmal nicht weiß, wo man anfangen soll.
Der Schatten
Mit den hohen Idealen und Visionen ging auch ein Wegstreben von der Gesellschaft einher. Das führte zu einer gewissen Distanz zur Gesellschaft, was das Interesse, außerhalb der eigenen Blase erfolgreich zu werden, vermindert hat. Damit sind auch finanzielle Zwänge und wirtschaftliche Realitäten außerhalb der eigenen Blase in den Hintergrund getreten, die in Wirklichkeit fast jeden Menschen betreffen. Das Ausblenden dieser Realitäten war auch nur durch die Unterstützung von Sozialleistungen möglich, was wohl auch nur wegen des Reichtums Deutschlands und den entsprechenden Sozialsystemen möglich ist. Es ist durchaus möglich, Sozialleistungen sinnvoll einzusetzen, aber es ist auch möglich, sich mit Sozialleistungen viel vorzumachen oder sich nur um sein eigenes Ego zu drehen, was meines Erachtens bei einigen Menschen in diesem Feld passiert ist.
Es gehört zur gesunden Entwicklung des Menschen dazu, dass man mit dem Erwachsenwerden Verantwortung für andere Menschen übernimmt. Das kann man daran erkennen, dass es biologisch vorgesehen ist, dass junge Erwachsene Eltern werden. Keine Verantwortung zu übernehmen, sei es für Kinder, in einem Job, in der Selbständigkeit oder in der Familie, öffnet der Falle der luziferischen Abgehobenheit Tür und Tor. In unserer Szene hat sich diese Falle durch ein dauerhaftes „Im-Prozess-Sein“ manifestiert, verbunden mit dem Wunsch, sich voll und ganz nur diesem Prozess hinzugeben und alle äußeren Verpflichtungen abzugeben. Wobei die Prozesse manchmal kein Ende fanden oder immer wieder aufflammten, da in den Momenten keine Lösung gefunden wurde und keine Grenzen von außen (durch Verpflichtungen) oder innen, in dem der Prozess selbständig beendet wird, wenn er nicht mehr fruchtbar ist, gesetzt wurden. Das führte zu einem Übermaß an Prozessen, die nicht mehr verarbeitet und integriert werden konnten. Dies führte zu einem Überdruss der Prozessarbeit gegenüber, wobei das Tool im richtigen Maß zentral für die psychische Befreiung des Individuums ist. Aber wie bei allen Tools, kommt es auf die richtige Anwendung an. Zeit für sich und seine Entwicklung ist wertvoll und ein Luxus, wenn man sie wertschätzt. Dann kann aus ihr etwas Wunderbares entstehen.
Das Erkennen
Im Netzwerk wurde die luziferische Abgehobenheit nach einem Jahr auch gesehen und als Problem anerkannt; es wurde versucht, gegenzusteuern. Seinen eigenen Schatten einzuholen ist allerdings sehr herausfordernd. Das Wesen einer Gruppe oder eines Netzwerkes hat ja eine gewisse Form, in der auch der eigene Schatten einen Platz hat. Seinen eigenen Schatten auszugleichen bedeutet, diese Form zu verändern, was ein delikater, komplexer und voraussetzungsreicher Prozess ist. Die größte Voraussetzung und Herausforderung ist, dass der Großteil und alle entscheidenden Personen einer Gruppe den Schatten als solchen und die Notwendigkeit zur Veränderung anerkennen. Darüber hinaus ist die Form und damit der Schatten einer Gruppe nicht ohne Grund so, wie er ist; es hängt viel mit den Überzeugungen der Mitglieder und insbesondere der verschiedenen Verantwortungsträger zusammen. Das heißt, dass eine Transformation des kollektiven Schattens nur einer Transformation der individuellen Schatten der Mitglieder folgen kann. Andersherum geht es nicht, denn die Transformation des kollektiven Schattens würde immer durch die individuellen Schatten torpediert werden.
Von der Erkenntnis zur Lösung
Den Schatten der luziferischen Abgehobenheit, war einer der hauptsächlichen Schatten im NET. Wir haben allerdings begonnen, ihn einzuholen und Veränderungen vorzunehmen, um ihn auszugleichen. So hat uns die Philosophie von Rudolf Steiner und seine Beschreibung von Luzifer und Ahriman geholfen, den Schatten archetypisch zu verstehen. Die Dreiteilung nach Steiner in Licht, Liebe und Willen hat uns einen Ausblick auf eine Ausgeglichenheit gegeben. Eine Lösung für einen dialektischen Schatten ist die Trinität. Darauf folgte ein starker Fokuswechsel auf Wirtschaftlichkeit und das Nachholen der Willensschulung, sowie der Wunsch, eine Selbständigkeit aufzubauen. Womit wir direkt ein hohes Ziel von Wirtschaftlichkeit in den Blick genommen haben.
Die Umsetzung des Wandels
Aber Materie ist langsamer als der Geist, und diese Veränderung wirklich in der Gruppe und im Leben der einzelnen zu verankern, ist ein weiter Weg. Hinzu kam, dass der Umschwung nicht von allen getragen wurde und einige an dieser Stelle die Gruppe verließen. Die große Veränderung, das Gehen von einigen Mitgliedern sowie das Ausbleiben von schnellen Erfolgen hat das Netzwerk ausgehöhlt.
Hinzu kam, dass die Form und der Geist des NET bei der Gründung anders konzipiert wurden. Weitere Gründe, wie dass die Mitglieder für ein anderes Verhältnis und Beziehung im Miteinander bereit waren und sich dieses auch gewünscht haben, haben dazu geführt, dass es stimmiger war, das Netzwerk an dieser Stelle aufzulösen. Wir Phönixe sind dann im Guten aus dem Netzwerk ausgetreten und haben die Standarte des Netzwerks an die Gründergemeinschaft zurückgegeben. Ein sehr emotionaler Akt, da viele Wünsche und Idealismus mit dem Netzwerk verbunden waren. Jetzt geht jede der drei Gemeinschaften ihren eigenen Weg und findet ihre Form, wie sie die Vision, angebunden z.B. an eine Wirtschaftlichkeit, weiter auf die Erde bringen und leben wollen. Wir konnten den Akt des Schließens in Frieden und Freundschaft vollziehen, was sehr wertvoll für uns war. Alle drei Gemeinschaften haben aus der Erfahrung gelernt und sind gewachsen. Die Auseinandersetzung mit dieser Struktur war so tiefgehend und umfassend, dass wohl kaum einer wieder in dem Maße in die Falle gehen würde.
Eine weitere gute Nachricht ist, dass wir trotz dieses blinden Flecks sehr viel Gutes in die Welt bringen konnten. Das ist trotz aller Desillusionierung eine große Hoffnung: Es ist möglich, Gutes zu tun, trotz Schatten und Unperfektheit. Daran sollen wir uns alle immer wieder erinnern.
Ich hoffe, einige unserer Erkenntnisse, die ich in diesem Artikel geteilt habe, waren wertvoll für dich.
Quellen
²Über die Grünen: https://de.wikipedia.org/wiki/Fundi
³Über die AFD: https://x.com/FraukePetry/status/1873402035707547667