„Vertrau deinen Gefühlen.“
„Aber ich fühle das so.“
Sind dir solche Aussagen vertraut? Es ist durchaus wichtig zu lernen, liebevoll mit dem eigenen Innenleben umzugehen und es ist ein wichtiger Schritt, sich selbst mit der eigenen Gefühlswelt anzunehmen.
Ebenso liebevoll ist es aber auch, dir selbst einzugestehen:
“Oft dienen mir meine Gedanken nicht.”
und:
“Nicht alle meiner Gefühle sind echt und befreien mich.”
Da stellt sich doch die Frage:
“Kann ich meinen Gefühlen wirklich trauen?”
Die Antwort darauf ist etwas komplexer – also lass uns eintauchen!
Was Gefühle sind – und was sie nicht sind
Ja, du kannst deinen Gefühlen vertrauen: Gefühle sind wichtige Signalgeber. Sie weisen dich auf deine Bedürfniswelt hin, auf erfüllte, aber insbesondere auch auf nicht erfüllte Bedürfnisse. Gefühle fühlen zu können ist daher essentiell für unsere Existenz. Es ist enorm wichtig und hilfreich für dein Leben, deine eigene Gefühlswelt kennenzulernen und tiefer zu erkunden.
Nein, du kannst deinen Gefühlen nicht vertrauen: Du hast schon eine langjährige Lern- und Erfahrungsgeschichte mit deinem emotionalen Erleben. Kaum ein Mensch hat in seinem Aufwachsen erlebt, mit seiner emotionalen Welt voll und ganz angenommen zu sein. Du hast die Erfahrung gemacht, welche Gefühle okay sind zu fühlen (mit welchen du angenommen wirst), und welche nicht okay sind zu Fühlen. Kinder sind in ihrem Fühlen noch auf ein liebevolles, verständnisvolles und annehmendes Umfeld angewiesen, das sie in ihrem emotionalen Erleben hält und Raum gibt. Ist dieser Raum nicht da, entwickeln wir im Laufe unseres Aufwachsens Strategien um damit umzugehen. Manche Gefühle werden dann z.B. nicht oder weniger gefühlt. Sie wandern in das persönliche Unbewusste, in den Schatten.
Du hast also sehr wahrscheinlich (Überlebens-)Strategien gelernt, die deine echten Gefühle verfälschen oder wegdrücken. Die Folge davon ist, dass du
- Bestimmte Gefühle gar nicht mehr fühlst (dann taucht stattdessen z.B. Leere auf)
- Oder Deine Ideen und Interpretationen mit deinen Gefühlen verwechselst
- Oder Unechte oder gewohnheitsmäßige Gefühle fühlst, anstelle der echten, verdrängten Gefühle.
Denken statt Fühlen: Interpretationen und Ideen mit Gefühlen verwechseln
Gerne hängen wir in Gedankenschleifen, statt das zu fühlen, was es gerade zu fühlen gibt. Dann können wir beispielsweise einen Gedanken immer und immer wieder in verschiedenen Varianten durchkauen – ohne dass sich dadurch irgendetwas bewegt.
Entweder vermeiden wir durch unsere Gedanken das Fühlen – oder wir verwechseln die Ideen und Interpretationen die wir haben mit unserem Fühlen.
Ein Beispiel: Tim und Anna haben in ihrer Partnerschaft oft Auseinandersetzungen darüber, wie viel Zeit sie miteinander verbringen. Tim wünscht sich mehr gemeinsam verbrachte Zeit – Anna möchte ihren Freiraum unbedingt erhalten und hat noch viele andere Dinge, die ihr wichtig sind. Von Tims Seite fallen in Streits Sätze wie: “Ich habe das Gefühl, dass du nie Zeit für mich hast.” oder “Ich habe das Gefühl, dass du sowieso nur machst, worauf du Bock hast.”
Was wir hier bemerken können:
- Tim spricht hier nicht wirklich von seinen Gefühlen, sondern über seine Interpretationen von Annas Verhalten. Wenn er sich nur auf diese fokussiert, hindern sie ihn daran, wirklich zu seinen Gefühlen zu kommen.
- Tim könnte beispielsweise bemerken, dass er traurig ist wenn Anna weniger Zeit für ihn hat, als er sich wünscht. Er könnte dann auch bemerken, dass diese Trauer nicht nur etwas mit Anna zu tun hat, sondern er sich vielleicht generell mehr Kontakt wünscht und manchmal einsam fühlt. Er könnte auch bemerken, dass er Wut fühlt, wenn Anna immer wieder andere Prioritäten setzt als die gemeinsame Zeit.
Laurence Heller und Angelika Doerne schreiben in ihrem Buch “Befreiung von Scham und Schuld” über echte Gefühle:
“Ein echtes Gefühl ist daran zu erkennen, dass wir sagen können “Ich bin …”, wie zum Beispiel “Ich bin traurig.”, “Ich bin wütend.”, “Ich bin verletzt”. Das geht bei einer Interpretation nicht. Außerdem können wir echte Gefühle daran erkennen, dass eine Bewegung mit ihnen einhergeht und wir uns lebendiger fühlen, wenn wir sie zulassen – auch, wenn es sich um unangenehme Gefühle handelt.”
Es ist wichtig zu lernen, Interpretationen und Ideen von Gefühlen zu trennen und die Verwechslung zu bemerken, die oft passiert.
Unauthentische, sekundäre Emotionen und gewohnheitsmäßige-Gefühle
Nachdem du jetzt dein Denken von deinem Fühlen unterscheiden kannst, ist eine weitere Unterscheidung wichtig: Die zwischen echten Gefühlen und sekundären, unauthentischen bzw. gewohnheitsmäßigen Gefühlen.
Wie oben erwähnt, hast du bereits eine lange Lerngeschichte mit deinem Gefühlsleben hinter dir. Dabei hast du wahrscheinlich die Erfahrung gemacht, dass manche Gefühle von deinem Umfeld, insbesondere deinen Eltern, eher akzeptiert und angenommen wurden, als andere. Die Gefühle, die nicht angenommen oder abgelehnt wurden, hast du dann weggedrückt. Sie sind in den Schatten gewandert. Stattdessen hast du dir dann angewöhnt etwas zu fühlen, was eher akzeptiert ist. Damals war das eine wichtige und scheinbar überlebensnotwendige Anpassung an dein Umfeld. Heute, als Erwachsener, wird sie deinem authentischen Fühlen jedoch im Weg stehen.
Ich greife nochmal das Beispiel von oben auf: Tim wird oft ganz traurig, wenn Anna und er sich streiten. Er fühlt sich dann auch ohnmächtig, weiß nicht, was er noch tun kann. Diese Gefühle sind ihm wohlvertraut – auch in der letzten Beziehung ging es ihm ähnlich. Warum nur hat er immer wieder das gleiche Problem mit seinen Partnerinnen?
Was Tim nicht bemerkt: Die Trauer und Ohnmacht sind für ihn gewohnheitsmäßige Gefühle. Darunter, gut versteckt, liegt auch eine gehörige Portion Wut, die ihm allerdings nicht ohne weiteres zugänglich ist. Wut darüber, dass seine Bedürfnisse in der Beziehung zu wenig Raum bekommen und etwas was ihm wichtig ist (gemeinsam verbrachte Zeit) immer wieder hinten runterfällt.
Gewohnheitsmäßige Gefühle sind eine unbewusste Angewohnheit, auf Schwierigkeiten immer wieder mit genau demselben Gefühl zu reagieren. Dieses Gefühl ist dann sehr vertraut und taucht in verschiedenen Lebenssituationen immer wieder auf, wie ein Lied, das in Dauerschleife läuft.
Trauer und Wut sind die typischsten Beispiele, wie gewohnheitsmäßige Gefühle ein anderes “deckeln” können:
- Reagieren Menschen aus Gewohnheit mit Trauer oder Ohnmacht, ist das weggedrückte Gefühl meistens Wut.
- Reagieren Menschen aus Gewohnheit mit Wut, ist das weggedrückte Gefühl meistens Trauer oder Verletzung.
Diese gewohnheitsmäßigen oder sekundären, unauthentischen Gefühle führen in der Regel auch nicht dazu, dass sich im Inneren wirklich etwas in Bewegung kommt. Man kann sich regelrecht in ihnen verlieren. Auch wenn sie sich sehr echt anfühlen können – und teils auch sehr dramatisch auftreten – sie sind es nicht.
Sie sind wie ein Djungle oder ein Sumpf, den es zu durchqueren gilt, bevor du zum wahren Fluss deiner Gefühle vordringst. Das kannst du am besten machen, indem du dein Fühlen neugierig forschend und auch hinterfragend erkundest. Es geht nicht darum, unauthentische Gefühle “loszuwerden” – sondern hinter sie zu schauen und durchlässig zu werden für die wahren Gefühle. Später kannst du Sumpf und Djungle dann vielleicht sogar komplett umschiffen.
Neue Pfade gehen
Wie kannst du nun erkennen, ob ein Gefühl „echt“ ist, oder ob es ein Pseudo- oder Schattengefühl ist? Diese Frage wird dich auf einen Erkundungs- und Lernweg führen, den du nicht in einem Tag und auch nicht in einem Jahr abgeschlossen haben wirst. Es ist ein lebenslanger Lernweg, der dich immer mehr befreien und in deine Authentizität bringen wird.
- Übe Gewahrsein: Bewusstwerdung ist immer der erste Schritt für Veränderungen. Übe zu bemerken, was gerade in deiner Gefühlswelt passiert. Bemerke, wenn du gerade nicht fühlen kannst. Bemerke, wenn du dich in Gedanken verlierst. Bemerke, wenn du mal wieder deine altbekannten, gewohnheitsmäßigen Gefühls-Reaktionen abspulst.
- Neugierde und Offenheit dir selbst gegenüber: Begegne dir selbst in der Erkundung deines Innenlebens mit Neugierde und Offenheit. Du kannst dir das wie einen Forscher vorstellen, der eine neue Region entdeckt und dabei ganz aufmerksam und offen alles bemerkt, was ihm dabei begegnet. Gib deinem inneren Kritiker dabei nicht zu viel Macht – oft neigen wir dazu, und bei der Erkundung direkt mit einer sehr kritischen und verurteilenden Haltung zu begegnen. Das ist allerdings eher kontraproduktiv.
- Verlangsamung: Ideen, Interpretationen und Gedanken sind oft schneller als die echten Gefühle. Auch die automatischen, erlernten Gefühle sind oft sehr schnell da. Auf neurologischer Ebene hast du da Autobahnen in deinem Gehirn. Wenn du neue, noch schmalere Pfade erkunden möchtest, musst du abbremsen, verlangsamen. Der Atem kann dir dabei helfen. Gerade in Streitsituationen reagieren wir oft sehr schnell und aus unseren gewohnten Mustern heraus. Du kannst in einem Streit z.B. kurz die Augen schließen und dir zwei tiefe Atemzüge Zeit nehmen um wirklich zu spüren, was gerade in dir ist. So kommst du – nach und nach – aus deinen Automatismen raus. Das, was sich darunter befindet, kann sich entfalten.
- Hol dir Spiegel ein: Wenn du dich nur mit dir selbst beschäftigst kann es leicht passieren, dass du dich im Kreis drehst – auf gedanklicher oder gefühlsmäßiger Ebene. Hier kann ein Gegenüber sehr helfen. Frag Menschen (von denen du glaubst, dass sie eine gute Wahrnehmung für das Innere haben) nach Unterstützung und Spiegeln.
Fazit
Wenn du lernst, deine echten Gefühle zu fühlen, dann können sie sich vervollständigen und wirklich fließen. Dann kannst du ihre Botschaften wirklich verstehen. Dann kannst du wirklich Verantwortung für dich selbst übernehmen.
Der Weg dorthin ist nicht ganz leicht – lohnt sich aber mit Sicherheit. Deine Gefühle sind tief verwurzelte Gewohnheiten, erlernte Muster. Die Neu-Organisation deines gefühlsmäßigen Erlebens und deiner Reaktionen auf das, was um dich herum passiert, braucht vor allem Zeit und kontinuierliche Aufmerksamkeit und Praxis.
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Empfehlungen zum Weiterlesen:
Buchempfehlung: Laurence Heller & Angelika Doerne: Befreiung von Scham und Schuld. Alte Überlebensstrategien auflösen und Lebenskraft gewinnen.
Hinweis:
Unsere Texte, Hinweise und Anleitungen sind in erster Linie für psychisch gesunde Menschen gedacht, die ihr inneres Erleben besser verstehen und bewältigen möchten. Sie dienen der allgemeinen Information und Selbsthilfe. Solltest du therapeutische Unterstützung und spezifische Informationen benötigen, empfehlen wir dir, entsprechende Informationsseiten oder Fachleute aufzusuchen.